
Blau – die Farbe meiner Träume
Im Blau der Meeresküsten findet der Mensch zu sich selbst – sagt die Reiseerzählerin Jule Reiner und fordert die Unversehrtheit des Meeres zurück.
Vor vielen Jahren auf der griechischen Insel Samothraki passierte ein denkwürdiges Versehen. Eine Hitzewelle hielt schon seit Wochen an und selbst das Meer, das rings um die steil abfallende Küste wüst aufbrausen kann und die großen Kieselsteine und Uferfelsen an den Stränden zu alabasterglatten Eiern geschmirgelt hat, waberte nur noch ölig und träge. Auf einem der Steineier saß ich im Schatten eines Baumes und hielt die Füße ins Wasser, um so die heißesten Stunden des Mittags vorbeigehen zu lassen. Und in ein Buch vertieft, spürte ich plötzlich eine angenehme, zarte Berührung an meinem Fuß.

Und da war sie, diese komische kleine Meerjungfrau, nicht wirklich hübsch anzusehen, ein quaddeliges, grau-braunes Ding, das da an meinem Bein heraufkroch als wolle es mich becircen.
Ich las gerade in Goethes Faust, die Stelle in der Walpurgisnacht über die Kabiren, diese mystischen Gottheiten, denen man auf Samothraki eines der frühsten Heiligtümer errichtet hatte und sie kultisch verehrte. Goethe lässt sie erscheinen als „klein von Gestalt, groß von Gewalt, der Menschen Retter, uralt verehrte Götter.“ Mein kleiner Kabire aber, der gerade aus der Tiefe zu mir herauf gekrochen war, erschrak fürchterlich, als er seinen Irrtum bemerkte und machte sich schleunigst und Tinte verspritzend zurück in sein Element. Für einen Augeblick lang aber war ein Dialog zwischen uns entstanden. Man weiß ja, wie intelligent Kraken sind und daß sie tatsächlich Kontakt aufnehmen können.
Zugegeben: ich bin eine hoffnungslose Romantikerin. Wenn die Welt nicht ihre Schönheit zeigt, kann sie mir gestohlen bleiben. Und am schönsten finde ich sie an ihren Küsten. Meere erwecken Sehnsucht nach dem Anfang des Lebens. Ihre Küsten sind die Grenzlinien, an denen vor rund 200 Millionen Jahren die ersten Gliederfüßer, oder griechisch bezeichnet, die Arthropoden ihre Fühler nach Land ausgestreckt haben. Und wie dieses Land an manchen Küstensäumen in die Tiefe des Blaus absinkt, wirkt es zuweilen, als spiegelte sich die ganze Welt darin. Das Blau nannte Juan Miró, der zusammen mit Chagall und Picasso einmal zur Inspiration auf die Insel Lesbos kam, die Farbe seiner Träume und schöpferischen Vorstellungskraft. Und der französische Essayist Thierry Fabre beschreibt es als ein „Amalgam, in dem sich das Beständige mit dem Beweglichen, die Erwartung mit dem Sprung mischt.“
So gibt es in Griechenland Klippen, auf denen man glaubt, sich hineinfallen lassen zu können in dieses weiche, fließende Sprungtuch aus Blau. In keinem anderen der vielen Länder, die ich bereist habe, fand ich solch bizarre Küstenlinien, ein so luzides Meer und so wundersame Felsformationen wie dort. Ein Land, das vom Blau modelliert wird und sich immerzu in ihm spiegelt.
Und als andere frühe Völker noch argwöhnisch und die Hirne voll mit chaotischen Flausen über grässliche Naturgewalten und dämonische Mächte in ihren Höhlen hocken blieben, machten sich diese Griechen auf, um ferne Ufer zu erkunden. So ist auch vom Kabirenheiligtum auf Samothraki, das als letzter Außenposten vor dem kleinasiatischen Festland liegt, überliefert, dass es die Seefahrer anliefen, um vor der Einfahrt in die Dardanellen den Beistand der Götter zu erbitten.
In unseren Breiten des Abendlands hat es hingegen lange gedauert, bis Land und Ozean als Einheit und die Küste als Ort der Sehnsucht erfasst wurden. Wo fester Boden aufhörte, lauerten in der Phantasie der Menschen schreckliche Gefahren: Seeungeheuer, Chimären, Stürme als Ausdruck göttlichen Zorns – all das verhieß Reisen ohne Wiederkehr. Noch bis ins frühe 17. Jahrhundert galten die Küsten als ungastliche Landschaft, die der Mensch weder gestalten noch nutzen mochte, das Meer war die unermessliche Weite, die sich seinem Fassungsvermögen entzog.

Erst mit dem Aufkommen des romantischen Ideals im 18. Jahrhundert begannen Dichter und Maler Westeuropas das Schreckliche der Küsten in Erhabenheit zu verwandeln. Allmählich setzte ein früher touristischer Aufbruch an die Küsten ein und die Kultur der Seebäder keimte auf.
Auf diese Bühne trat auch jemand, dem ich bald meine Leidenschaft für das Meer verdanken sollte. Jules Verne schrieb sein utopisches Werk „20 0000 Meilen unter dem Meer“. In einer Sonntagsmatinee im Kino begegnete ich Kapitän Nemo zum ersten Mal. Und obwohl er die Schiffbrüchigen, die er an Bord der Nautilus nahm wie Gefangene behandelte, stand ich sofort auf seiner Seite. Ich erinnere mich, wie man durch ein enormes Bullauge in die Unterwasserwelt hinausschaute, wo Nemo´s Taucher gerade einen untermeerischen Garten Eden beackerten. So begegnete ich mit etwa sechs Jahren der frühen romantischen Vision vom Meer als Lebensspender.
Seither laufe ich dem Blick durch das Bullauge in diese Welt des Schweigens nach und habe mich zur Sammlerin von Seeaquarien entwickelt, wo immer sich eines zur Besichtigung bietet. Ob kleines Becken oder mit Millionen Litern Wasser gefüllte Tanks: Stets ähneln sie Gemälden, die nicht einmal Taucher in solcher Universalität zu sehen bekommen.
Eines der ältesten europäischen Seeaquarien ist das aus viktorianischer Zeit stammende Brighton and Hove Seacentre. Als ich es zum ersten Mal besuchte, waren die Scheiben der Aquarien noch von barocken, schweren Goldrahmen eingefasst, als hätten sich die Gründer nicht ganz entscheiden können, ob sie die Meeresbewohner in diesen Bildern nur eingefangen hatten oder sie als lebendige Zeugen des marinen Lebens vor der Küste vorführen wollten. Heute beherbergt Brighton in einem modernen Glastank auch einen Riesenkraken.

Da ist sie wieder, die Unentschiedenheit zwischen Bewunderung und Grauen, zwischen Meereslust und dem Unfassbarem. Auch Jules Verne zitierte den alten Horror der Meere und ließ die Mannschaft der Nautilus mit einem Kraken kämpfen, dessen Fangarme wie die Schlangen des Medusenhauptes durch eine Luke ins Boot schnellten und den Kapitän zu erwürgen drohten. Im Kinofilm wurde der Krake mit Axthieben verstümmelt. Nun gut, er hätte sonst die schöne Nautilus zerkleinert. In meiner kindlichen Ergriffenheit aber wusste ich nicht, um wen ich mehr bangen sollte. Heute wäre es der Krake. Denn er gehört nicht ins romantische Blau, vielmehr ist sein Element das Schwarz der Tiefsee, die so viele Rätsel aufgibt. Wir haben zu ihr noch kaum Schaufenster und sollten uns mit den Küsten begnügen.
Obgleich die Grenze im Oceanario Lisboa, einem der phantastischsten Aquarien Europas, bereits überschritten ist. Dort wird man zwischen Riesentanks, die das Leben in vier Ozeanen ausstellen, bald ins Erdgeschoss geleitet und kommt an: 20 000 Meilen unter dem Meer und entdeckt einen Riesenkraken, verschlungene Wolfs-Aale, Medusen leuchtendblau im elegischen Wasserballett. Ein Becken ist schwarz wie die Nacht und scheinbar leer, bis man wahrnimmt, dass dutzende nadelfeiner Fünkchen darin aufblitzen. Tiefseefische, die sich durch das Fluoreszieren sie bewohnender Bakterien orientieren. Aber müssen wir denn alles ans Licht zerren, was so gerne seinen Mythos behalten würde.
Die Begegnung mit einem vom überhitzten Meer in die Irre geleiteten Oktopus, der sich an einen Menschenfuß schmiegt, gibt die Frage auf, wer mit wem in den Dialog treten mag. Küsten sind die wundersamsten Grenzorte, die murmelnden, anschwellenden und mitunter brüllenden Demarkationslinien zwischen der inneren Romantik und der Anerkenntnis der Urgewalt. Lord Byron schrieb, es sei die „Unversehrtheit des Meeres, die dem historischen Wandel gleichgültig gegenübersteht, da seine Gewalt und Energie seit den Anfängen der Welt keinen Verlust erlitten habe.“
Auf der südlichen Peloponnes bei der mittelalterlichen Felsensiedlung Monemvassia, die unsichtbar gegen das Land auf einer Küstennase heraufgewachsen ist und ihren Blick nur aufs Meer richtet, misst das Mittelmeer seine tiefsten Stellen. Mehr als fünf Kilometer erreicht dort der Graben zwischen zwei tektonischen Platten und die Meeresoberfläche wogt behäbig wie schwere Tinte. In einfachen Tavernen kann man da die Sinne ins unergründliche Blau versenken. Ein magischer Ort. Mit etwas Glück kommt eine Wirtin und erkennt, dass sich hier gerade ein neuer Dialog entspinnt. Und sie zerteilt ein paar Tomaten, häufelt Oliven dazu, schnitzt griechische Rautenmuster in die Ränder der Gurkenscheiben und schneidet dünn den Schafskäse dazu. Ein naturtrüber Fasswein, ein Korb mit Brot kommt auf den Tisch. Kein Stückchen Oktopus dabei, den Göttern sei Dank.
„Das freie Meer befreit den Geist“, heißt es bei Goethe in der Walpurgisnacht, wenn die Kabiren ihr starkes Wesen entfalten. Ein Krake mag unten im Graben vor Kap Matapan gerade seinen Chimären begegnen. Seine kleineren Verwandten indessen sollten mit den Menschen nicht unbedingt Kontakt aufnehmen. Es tut ihnen nicht gut, wie man an Griechenlands Küsten sieht, wo sie auf Leinen gespannt zum Trocknen baumeln – bevor sie in der Pfanne landen. Dabei schmecken sie noch nicht einmal besonders gut. Aber Füße küssen, das können sie.