
Grönland - Kaffeeklatsch im höchsten Norden
Ultima Thule, die unbewohnbare Grenze der Hocharktis, ist das Ziel und Selbstzweck der Reise dorthin, wo man das Eis wachsen sieht.
Kullorsuaq - die Siedlung ist am frühen Morgen mit ihren bunten Holzhäusern im Bullauge aufgetaucht wie ein unwirkliches Foto. Wie lange war das Schiff auf See? Dreißig Stunden, oder mehr? 305 nautische Meilen hat es sich weiter in den Norden hinaufgearbeitet seit dem letzten Landgang in Ummanaq. Ein belebtes Städtchen bei 70 Grad Nord, an der Nahtstelle zwischen dem ehemaligen Dänischen Kolonialreich und dem Übergang in die kaum mehr bewirtschaftbare Hocharktis. Auf der Terrasse des Hotels Ummanaq in einem wärmenden Sonnenfeld sitzend , nahm man von Zeit zu Zeit wahr, dass sich das Bild vom Hafenrund irgendwie veränderte. Und trotzdem schien es, als würde nichts geschehen in diesem Ort. Nur die Eisberge verschoben sich, das war es. Manchmal knackte und rumpelte es laut, wenn irgendwo ein Stück abbrach. Die Menschen am Hafen taten ihre Arbeiten so bedächtig, als hätten sie ihr Zeitmass diesen trägen und ganz unabänderlichen Verschiebungen angepasst. Und die rasante Veränderung, welche die Königlich Grönländische Handelsgesellschaft der Dänen Ende des 18. Jahrhunderts in ihr Jagdgebiet gebracht hat, hätte ebenso gut an ihnen vorbei gegangen sein können. Prächtige Holzbauten aus der Kolonialzeit machten den Kern des Städtchens, das den Inuitnamen „Robbenherz“ trägt, zu einem Kleinod in der Gletscherlandschaft. Auf der Rückseite des Berges aber starrten uniforme Häuserblocks über den Fjord, die an Elendsviertel irgendwo auf der Welt erinnerten. Im Ortskern dagegen waren noch ein paar geduckte Torfhäuser zu besichtigen, welche die Inuit bis 1970 als Winterhäuser bewohnt haben. Höchst einfache Einraumbauten mit Feuerstelle oder kleinem Ofen, mit einem Schlaflager aus Fell, ein paar Holzgestellen zum Trocknen der Pelzkleidung und der Kamiken, der Fellstiefel. Im Hotel Ummanaq hingegen streicht man am Bartresen und Empfangsdesk mit der Hand über Robbenfellbespannung. Auf der Speisekarte steht Eisbärfilet an teuerster Stelle für all jene, die im frühen Sommer und Herbst zu Hundeschlittenrennen anreisen, für Golffreaks die gern auf Eisparcours putten und Hartgesottene, denen das Zelten und Eisfischen in der erstarrten Welt als Sport gilt.

Das Ziel dieser Reise aber heißt Ultima Thule, in der Antike als das „Ende der bewohnten Welt“ beschrieben und als Sehnsuchtsort, wo die Geheimnisse des unentdeckten Nordens warten. Ab Ummanaq hing über dem Schiff ein düsterer Wasserhimmel, das Polarmeer ein endloses graues Vlies, das irgendwo hin waberte. 305 Meilen, die auf seltsame Art von aller Erdgebundenheit befreiten. Vorbei die sonnengefluteten Ansichten von blau-weißen Kolossen auf der Straße der Eisberge weiter südlich. Wie auf einer Perlenschnur hatten die gefährlichen Majestäten das Schiff begleitet, eine kalte Fracht aus dem berühmten Geburtsbecken der Diskobucht mit dem Jakobshavn-Gletscher. Dort lief das Schiff das Städtchen Ilulissat an, ein arktisches St. Moritz für Eis- und Kältesüchtige, daneben die Abbruchkante des Gletschers. Sermeq Kujaleq, wie er auf Grönlandisch heißt, ein Gezack und Getürm aus blau-weiß-grauem Dauerfrost, bot ein Bild als sei die ganze Welt implodiert und würde sich nun schäumend in den Ozean ergießen. 25 Millionen Tonnen Eis täglich lösen sich aus dieser Gebärmaschine und gehen auf ihre Drift in den Norden. Ein unvergesslicher Rausch der Helikopterflug über der weißen Weite aus gewaffeltem, getürmtem, zerschmettertem Eis. Robben auf der eisigen Sonnenbank wie die ersten Wesen der Schöpfung. Welt im Urzustand.
In den Breiten nördlich von Ummanaq aber schien sich diese Welt aufzulösen, geriet in einen wabernden Aggregatszustand. Das Schiff allein wurde zur Heimat. Die Rituale der Dinners, wissenschaftliche Vorträge, das Teetrinken in der kleinen Bibliothek wirkten wie Haltebojen in der in alle Himmelsrichtungen davongeflossenen Zeit. Dick vermummt ein Spaziergang auf Deck, ein Besuch auf der Brücke. Kapitän und Offiziere arbeiten rund um die Uhr. Navigations¬computer bilden Eis- und Landmassen dreidimensional ab, unaufhörlich wird der Kurs auf den Seekarten korrigiert, werden Eismeldungen mit anderen Schiffen ausgetauscht. Gut so! Eisberge tauchten aus dem Nebel auf wie graue, schrundige Seeungeheuer. Bedrohliche Ferne und Stille lag über dem Wasser. So musste der horror vacui die frühen Polarexpeditionen ereilt haben.“Ist da noch wer?“ Kein Echo. Ein Wal wäre schön gewesen.
Um sechs Uhr früh dann die unwirklichen Häuser von Kullorsuaq auf hohen Granitfelsen. Eisberge liegen vor dem Dorf wie aufgelaufene Wale. Kullorsuaq zählt 400 Einwohner, Fänger und Jäger, fast doppelt so viele Schlittenhunde, 100 Schulkinder, 7 Lehrer. Eine der Lieblingsbeschäftigungen der Inuit heißt Kaffemik. Ein gastfreundliches Plauderritual bei Kaffee, Tee und Süßgebacke¬nem. Und die Berwohner von Kullorsuaq laden die Schiffsreisenden dazu ein. Wie ein kleines Rollkommando wirken die 70 Passagiere dann auf dem schmalen Strand, wo sie in Gruppen eingeteilt von ihren Gastfamilien mitgenommen werden. Wir gehen mit Otto Jensen und seiner Frau, sehr weit den Berg hinauf, vorbei an aufgespannten Robbenfellen, Vorratstonnen mit gepökeltem Heilbutt, Gestellen mit Trockenfisch und Meuten von winselnden, an ihren Ketten zerrenden Hunden. In Jensens Haus ist der Kaffeetisch schon gedeckt. Das Wohnzimmer nach moderner Lebensart überheizt, die Wände voller Erinnerungsfotos, Auszeichnungen, Zertifikaten wie ein offenes Album, in dem die Neuzeit dokumentiert werden soll. Frau Jensen stellt scheu die Kannen auf den Tisch und hält sich dann schweigend im Hintergrund während ihr Mann die Runde eröffnet. Hier sein Jagdbuch mit eingetragenen Fangzahlen hinter den Tiernamen: nanoq Eisbär, puisip Robbe, arfrup Wal, tuttup Rentier. Gutterale Laute, mit einer Art Zähneknirschen und leisem Zischeln gesprochen, wofür es in unserer Sprache keine Entsprechung gibt. Die ostinuitische Sprache sei polysynthetisch, steht im Sprachführer, das bedeutet sehr lange Wörter stehen oft für ganze Sätze. Inissamik pisinnaavunga. Ullaakkorsiutit ilanngullugit? „Kann ich ein Zimmer bekommen. Mit Frühstück?“ Jensens schütteln sich vor Lachen.
Immer wieder wandert der Blick aus dem Fenster. Geraffte Seidenvollants in Grellrosa rings um den Rahmen wirken wie ein Farbfeuer gegen die Unbedingtheit der Landschaft draußen, eine Monochromie aus brauner Heide, Granit und Eis. Am Horizont schimmert die Kappe des Inlandeises über der grauen Berglandschaft auf und scheint sich auf den Fjord zu wälzen. Ein flüchtiger Gedanke nur: Otto Jensen sieht vor seinem Fenster das Eis wachsen. Sicher hat er ein Gespür für Schnee, beherrscht noch die Kunst, seine Kristallbildungen zu deuten, Spuren, Anzeichen für Wetterveränderungen. Die hochzivilisierten Menschen hingegen verlangen nach Gewissheiten, wollen in allem, was sie sehen und tun an sich selbst erinnert werden. Das verweigert diese Landschaft. Sie belässt den Menschen immer in dem Augenblick, der gerade vergeht. “ Alltag am 74. Breitengrad Nord, wo schon das Weinen eines Kindes in der Dorfstille wirkt wie eine Sirene. Wenn bald alles im Eisharnisch liegt und sich die vier Monate dauernde Polarnacht über Kullorsuaq legt, muss die Tonlosigkeit atemberaubend sein. Dann helfen nur noch ausgedehnte Kaffemiks, drei Kanäle auf dem Fernsehapparat und die Videoabteilung in der Handelsstation am Hafen. Unser Schiff ist das letzte im arktischen Sommer, das soweit hinauf kommt. Das nächste werden die Bewohner von Kullorsuaq im Juli des nächsten Jahres sehen.
Weitere 30 Stunden wird die Reise bis zum realen Ort Thule brauchen. Der letzte vor der unbewohnten Eiswüste, die solche Magie auf Entdecker und Forscher ausübte, dass sie zu Scharen kamen. Man weiß es: die ersten Begegnungen zwischen ihnen und den Eskimos der Thule-Region verliefen fatal. Ganze Familien wurden für Expeditionen rekrutiert, oft für Jahre aus ihrem Lebenszusammenhang gerissen. Die Geschichte der Eroberung der Arktis erzählt von einem einzigen „Clash“ der Kulturen. Aggressionen, Rücksichtslosigkeiten, schamlose Übergriffe von Seiten der Entdecker. Hilflosigkeit, Anpassung, Entwurzelung auf Seiten der christianisierten und sesshaft gemachten Indigenen. Gewissheiten, die man während der langen Reise ins Bordtagebuch notiert. Etwa diese: Als 1818 der britische Marineoffizier John Ross bei einer Arktisexpedition auf die Eskimos der Thule-Region traf, bezeichnete er sie als „Arktische Highlander“. Sie hielten sich für die einzigen Bewohner des Universums und glaubten, dass der Rest der Welt eine riesige Eismasse sei. Anfang des 2o. Jahrhunderts begann der endgültige Sturm auf den Nordpol. Admiral Robert E. Peary, später zum amerikanischen Nationalhelden stilisiert, wollte ihn 1909 im Geleit „seiner Eskimos“, wie er sie nannte, als erster erreicht haben. Zum Dank nahm er ihnen auch noch zwei Meteoriten weg, ihr einziges Eisenvorkommen, aus denen sie ihre Pfeilspitzen und Werkzeuge machten. Sie landeten im New Yorker Museum für Naturgeschichte, ebenso wie eine Gruppe Inuit, die Peary entführt hatte. Im Keller des Museums wurden sie von Wissenschaftlern vermessen und wie Zootiere vor Schaulustigen ausgestellt. Sie starben binnen kurzer Zeit.

Heute findet sich in fast jeder Siedlung entlang der Westküste ein Containerbau mit einem Eisbären als Logo: Pilersuisoq, der Supermarkt. Die Regale sind gefüllt mit dänischen Produkten zu Kronen-Preisen, gegen die der Euro inflationär zittert. Erst seit 1979 entließen die Dänen Grönlands Inuit in die Selbstbestimmung. Formell entscheidet heute die Grönländische Regierung in der südlichen Hauptstadt Nuuk über alle Gesetzesbelange für die rund 50.000 Nachfahren der Ureinwohner. Doch Kopenhagen finanziert noch 60% des grönländischen Staatsbudgets. Für die entwurzelte Generation der hohen Kolonialzeit, die noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts für den Bau militärischer Anlagen zwangsumgesiedelt wurde, deren Jagdgebiete man mit Giftmüll verseucht und ihre Kinder daran gehindert hat, die Muttersprache zu sprechen, kommt jede Hilfe zu spät. Die Selbsmordrate in Grönland beträgt einen Menschen pro Woche. Hinzu kommt die hohe Dunkelziffer durch Akte von Selbstzerstörung wie etwa Unfälle im Alkoholrausch. Dies die andere Erkenntnis auf einem Weg, der allen Stoff der Abenteuerliteratur birgt.
Breite 77 Grad 28´ Nord. Qaanaaq, auch Thule genannt, nach weiteren 30 Stunden bei kabbeliger See erreicht. Zur Ankunft ist der Kirchenchor an Bord gekommen. Wunderschön in Nationaltracht gekleidet, mit farbenfrohen Blusen die Frauen, die Männer mit schneeweißen Jacken und alle in beinlangen Eisbärfellstiefeln, die sie in der Wärme des Salons höllisch ins Schwitzen bringen. Fast eine Stunde singen sie sehr leise Weisen, zuletzt das Unter¬gangslied der „Titanic“, „Nah zu dir mein Gott“. Als das Schiff die Bucht von Quaanaaq um ein Uhr morgens verlässt, kommt schon wieder ein fahles rötliches Tagesleuchten über den Horizont. Ein ultramarinblauer Eisberg von seltener Schönheit schiebt sich vor das Salonfenster und lässt Quaanaaqs Existenz zwischen Wasser, Eis und Gletschermassen verschwinden.
Ab jetzt gilt die Fahrt dem Nirgends der Packeisgrenze. Blaues Eis, schwarzes, junges Eis ohne Schneehaube, Kristallbildungen, grafisch und wundersam leuchtend, verdichten sich unaufhaltsam. Robben gleiten elastisch durchs vertraute Element. So geht es hinein in jenes unbewohnbare Chaos des Smith-Sund, wo 40 Suchexpeditionen vergeblich nach dem Schicksal des verschollenen „Entdeckers der Langsamkeit“ und der legendären Nord-Westpassage forschten. Wo sie im Packeis festfroren und ihre Schiffe zerquetscht wurden wie Nussschalen. Während zwei Tagen Zickzackfahrt vermerkt unser Kapitän im Logbuch: „Various courses to avoid ice.“ Dann bei 78 Grad 51´ Nord, 70 Grad 31` West im Kane Becken um 21.05 Uhr Maschinenstopp nah einer gewaltigen Eisscholle. Ab jetzt driftet und dreht sich das Schiff zwischen den flachen Schollen des Packeises. Eisdichte von 90 Prozent mahnt zur Umkehr. Zuvor aber geht es hinaus, mit Schlauchbooten durch schmale Fahrrinnen. Die tiefstehende Mitternachtssonne taucht das letzte Stück Welt in übernatürliche Pastellfarben. Eisflöße mit bizarren Zapfen und Kristallkrusten spiegeln sich im schwarzen Wasser wie seltene Pflanzen, Fischmäuler, untermeerische Phantasieschlösser. Als könne der Mensch in dieser schwebenden Unendlichkeit noch seinen Weg finden. Zum Pol, ins Koordinatenkreuz der Erde. Ein phantastischer Irrtum. In der Zeitlosigkeit dieser Reise aber entbindet er von allen Zwängen und vom Wissen um die eigene Endlichkeit. Deshalb wohl suchen die Menschen immer weiter nach Ultima Thule.