
Verdi satt
Vorhang auf für Opulenz und Opernkunst. Eine kulinarische Reise durch die Emilia-Romagna, die Heimat des Komponisten.
Eine kleine Szene in einem der Geschäfte an der Marktstraße von Parma, die von Teigwaren nur so überquellen. Die Tonart zwischen Kunden und Bedienungen bewegt sich zwischen heiterem Dur und scherzhaften Glissandi. Ein voluminös gebauter Herr lehnt an der Theke und verkündet mit melancholischem Bariton, dass er seit einiger Zeit versuche, Diät zu halten. Darauf ruft ihm die Verkäuferin zu, er solle doch besser gleich in eine andere Provinz verreisen.
Wie wahr! Denn: Wer entlang der alten Römerstraße Via Emilia reist, kann jede Hoffnung auf maßvolle Kulinarik im Keim ersticken. Hier in der Region Emilia-Romagna zwischen Appeninrücken, Po und Adriaküste, wo Don Camillo und Peppone zu Hause waren und die größten Geister der Musikgeschichte geboren wurden, hier gibt es keine Mäßigung. Und hier in der reichsten, der politischsten und - wie mein Gefährte Giuseppe, ein gebürtiger Emilianer erklärt - am meisten sexualisierten Region Italiens findet man auch immer einen Grund, sich selbst zu feiern.
In diesem Jahr am 27. Januar ist Giuseppe Verdi 100 Jahre tot: Hoch lebe Verdi. Die Emilia mit der Hauptstadt Bologna, auch la grassa, die Fette, genannt und Parma mit der Po-Landschaft, der bassa, wo der Meister geboren wurde und wirkte, laden zum Festival. Vorhang auf für einen Nationalhelden, für bukolische Opulenz, hohe Opernkunst.
Das erste Bühnenbild liefert das Ristorante Il Cortile, ein paar Schritte entfernt vom Geburtshaus Arturo Toscaninis mitten in den Altstadtgassen des einstigen Handwerkerviertels von Parma gelegen. Das alte Gewölbe öffnet sich auf eine lichte Veranda, wo mehrere Tafelgruppen versammelt und bereits mit Tortelli befasst sind, der fein gebutterten Pastaspezialität, die es - Ricotta! Parmesan! - faustdick in sich hat. Und schon klingt in den Unterhaltungen jenes Thema an, das die Parmesi neben dem Speisen wohl am meisten beschäftigt: die Oper. Die edle Herrenrunde am Nebentisch könnte gut aus Mitgliedern der legendären Loggionisti bestehen.
Der Wirkungsort der Loggionisti ist das Teatro Reggio, das prächtige klassizistische Opernhaus, das angeblich das strengste und sachverständigste Publikum des Landes anzieht. Die Loggionisti, 27 Herren, die die Namen der 27 Verdi-Opern von Nabucco bis Falstaff tragen, begutachten bis heute in eigener Loge die neuen Inszenierungen und können mit ihrem Urteil selbst einer Montserat Caballée gefährlich werden. In diesem Jahr, da das Reggio der Hauptschauplatz aller Verdi-Aufführungen sein wird, dürften sie milde gestimmt sein. An der eigenen Legende kratzt man schließlich nicht, geht lieber dem lukullischen Abschluss der Opernarbeit entgegen.
Inzwischen ist man im Cortile bei der Lieblingsspeise Verdis angelangt: spalla cotta, gekochter Schweinenacken, mit Röstkartoffeln, gedünstetem, jungem Fenchel und einem in bestes Olivenöl gelegten Gemüsereigen.
Gewöhnungsbedürftig ist das nationale Begleitgetränk, der moussierende Lambrusco oder ein Malvasia, das bis zum finale con dolce, einer zuppa Inglese - die natürlich in ihrer Mächtigkeit nirgendwo als in der Emilia erfunden wurde - beibehalten wird. Dem Schweren das Leichte und Flüchtige, dem Alten das Junge beizugeben, sagt Giuseppe, darin sind wir die Meister in der einzigen Gegend, wo die Linke immer gleich stark mit der Kirche war.
Dass es dabei auch kracht und rumort, dass mit bauernschlauem Feingeist und intellektuellem Aberwitz an den Zeitläuften gerüttelt wird, dafür stehen der unbeugsam eigenwillige Pfarrer und der gerissene Bürgermeister aus dem Schelmenroman von Guareschi ebenso wie Bernardo Bertoluccis Filmepos 1900 oder Fellinis Armacord.
Alle sind sie geistige Kinder der Emilia-Romagna und nationale Phänomene. Und natürlich Giuseppe Verdi! Welcher Künstler sonst hat im Freiheitskampf gegen jede Fremdherrschaft und für eine selbstbestimmte Nation mit solch feinsinnigem und zugleich machtvollem Einsatz seinen Platz eingenommen?
Schließlich enthielt er sich mit kaum einem seiner Opernstoffe der Parteinahme. Va pensiero, sull'ali dorate, Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen: Die Arie des Gefangenenchors aus dem ersten großen Erfolg Nabucco wurde fast zur italienischen Nationalhymne. Und Donizetti, der die Uraufführung in der Mailänder Scala hörte, sprach vor Freunden vom Genie der Oper. Dieser Nabucco! Schön! Schön! Schön!
Schinken von wahrhaft sinfonischer Reife
Verlassen wir den traumhaften, fürstlichen Klassizismus Parmas. Ehe wir aber Verdis Bühne in der bassa betreten, noch ein letzter Gang zum Domplatz. Hier finden wir einen weiteren Schlüssel dafür, weshalb gerade hier die künstlerischen Fantasien in den Himmel wachsen konnten. Aus der Domkuppel zeigen sie auf uns herunter, all die leichten, beflügelten Gestalten des Freskenmeisters Correggio. In einem Reigen um Mariä Himmelfahrt, der so schwebend, vollkommen und ausgelassen nach Höherem strebt, erscheint selbst der Tod als Komponist des prallen Lebens.
Und solche Bilder finden sich überall in der Padania, wie die Po-Ebene auch heißt. Selbst im kleinsten Dorf wie Le Roncole, wo Verdi 1813 das Licht dieser kunstvollen Welt erblickte. Und erst recht im nahen Städtchen Busseto, wo er später einen Palazzo bewohnen sollte und man ihm schon zu Lebzeiten ein Opernhaus erbauen und namentlich widmen ließ. Auch dort wird in diesem Jahr ein meisterliches Programm geboten.
Der Weg führt durch jenes Bauernland, in dem Gehöfte halb verschwunden in Sonnenblumen-, Roggen- und Maisfeldern liegen, wo in den Ställen jährlich 1,8 Millionen Schweine aufgezogen werden und 8 Millionen Parmaschinken reifen. Die Piemonteser sind die zweitgrößten Gourmets, aber schwerblütig, beginnt Giuseppe das Kalkül über seine Landsleute. Die Venezier sind bigott, die Neapolitaner gelten als Schlitzohren, die Römer als charmante Großmäuler. Die benachbarten Toskaner aber sind die Komiker und die Emilianer die lebenslustige Verbindung zwischen Arbeit und Genuss.
Busseto, das Städtchen, in dem sich die fürstliche Prachtentfaltung des 15. Jahrhunderts in Palazzi, Kirchen und dem stattlichen Kommunalpalast neben herzhaftem Markttreiben verewigt hat, gibt ihm Recht. Schön! Schön! Schön! Auch Sant'Agata, ein Nest nahebei mit der großbürgerlichen Villa Verdi, die er mit seiner zweiten Frau, der Sopranistin Giuseppina Strepponi, als Alterssitz erwarb. Noch immer wohnen einige Verdis darin, nur einen Teil der Villa haben sie als kleines Museum im Wohnstil ihres Ahnherrn zur Besichtigung freigegeben. Ganz die emilianische Art, so der Kommentar meines Giuseppe, stolz, aristokratisch und über Jahrhunderte in der Familientradition heimisch. Und sei es auch, dass einen die Nebel, die im Winter wie Gespensterfahnen vom Po übers Land ziehen, in Trübsal treiben. Man bleibt dennoch, wo man angestammt ist.
Der Fluss, der mörderisch anschwellen kann, ist aber auch verantwortlich für eine der größten Spezialitäten des Hinterlandes: den Culatello. Dem feuchten Klima, das die Gemäuer beherrscht, verdankt der kleine, nur fünf Kilo schwere Schinken eine wahrhaft sinfonische Reife. Davon überzeugen wir uns in der Hochburg seiner Produktion, dem kleinen Ort Zibello am Ufer des Po.
Träge schiebt er zwischen wüstenhaften Sandufern und reglosen Pappeln auf einen fernen Kirchturm zu, während eine weitere sensationelle Tafelschlacht im Landgasthof Al Cavallino Bianco, dem Weißen Rössl, beginnt. Nicht auszumalen, wenn das ein Leben lang so weiter ginge. Und plötzlich, das Lokal verlassend, herrscht unwirkliche Stille über dem Land der Völlerei. Aber in der Schwere der Luft scheint jetzt jene süße, getragene Musik zu liegen, wie wir sie aus Verdis Opern kennen. Und er selbst hat es ausgesprochen: Meinen Sie, ich hätte unter dieser Sonne, unter diesem Himmel den Tristan schreiben können?